Ergebnisse

Aus dem Sample der ReVikor-Studie ergibt sich eine Vielzahl interessanter, überraschender und interpretationsbedürftiger Ergebnisse. In dieser Hinsicht können wir an diesem Ort keine ausführliche Ergebnisdarstellung präsentieren. Eine vollständige Darstellung und Interpretation der ReVikoR-Ergebnisse erfolgte im Kohlhammer Verlag. Des Weiteren haben wir hier sämtliche Publikationen zusammengefasst.

Nichtsdestotrotz soll an dieser Stelle die Möglichkeit eines Einblicks in die Forschungsergebnisse eröffnet werden. Zu diesem Zweck wurden einige zentrale Ergebnisse aus dem großen Datenpool ausgewählt und in Form von 8 Thesen zusammengefasst. Dieses knappe „Forschungsrésumé“ bildet selbstredend nur einen kleinen Ausschnitt der Ergebnisse ab, welcher im Gesamtkontext sicherlich besser rezipiert werden kann – dennoch ermöglicht dieses Forschungsrésumé die Blüten der ReVikoR-Studie wahrzunehmen:

1.) Religiöse Vielfalt wird sowohl von Lehrkräften, als auch von Schülern und Schülerinnen als selbstverständliche Komponente des evangelischen Religionsunterrichtes wahrgenommen.

  • Lehrer*innen:
    • 77,9% schätzen die eigenen Lerngruppen als heterogen ein.
    • 72% geben an, dass sie religiöse Vielfalt unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion verstehen.
  • Schüler*innen:
    • 60% geben an, dass muslimische Schüler*innen,
    • 45% geben an, dass katholische Schüler*innen,
    • 70% geben an, dass Schüler*innen ohne Religionszugehörigkeit bzw. ohne religiöse Orientierung am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen.
  • Der extrem deutungsbedürftige Begriff der „religiösen Vielfalt“ wird erwartungsgemäß unterschiedlich verstanden: Sowohl die Pluralität von Konfessionen und Religionen als auch die Präsenz religionsferner Schüler*innen ist im Blick, ebenso die innerevangelische Pluralität.

2.) Die Trennung nach Religionsgemeinschaften bildet faktisch in Schleswig-Holstein nur ein eingeschränktes Kriterium für die Zusammensetzung der Lerngruppen des evangelischen Religionsunterrichtes.

  • Lehrer*innen:
    • 75% geben an, dass sie alle Schüler*innen einer Klasse – unabhängig von deren religiöser Zugehörigkeit – für die ideal zusammengesetzte Religionslerngruppe halten.
  • Die Trennung der Schüler*innen nach ihrer religiösen Zugehörigkeit wird hinsichtlich der konfessionellen Differenz evangelisch – katholisch nur teilweise praktiziert und eher als eine Herauslösung der Katholik*innen erlebt.
  • Religion und Philosophie werden häufig als Wahlpflichtangebot wahrgenommen, über das entweder die religiöse bzw. nicht-religiöse Weltanschauung oder aber vollständig subjektive Kriterien entscheiden.
  • Religion wird gelegentlich auch im Klassenverband unterrichtet, teilweise ohne dass es das eigentlich gesetzlich vorgeschriebene Alternativfach gibt.

3.) Evangelischer Religionsunterricht kann nicht (mehr) auf den Voraussetzungen einer evangelischen Prägung, Sozialisation und einem Bewusstsein für „das Eigene“ der Schüler*innen aufbauen.

  • Nicht nur die auffallend starke Präsenz nicht-religiöser bzw. religiös indifferenter Schüler*innen lässt den evangelischen Religionsunterricht stärker zu einer Erstbegegnung mit Religion bzw. religiösen Alphabetisierung werden, sondern generell auch die Relevanz von Religion im Leben der Schüler*innen.
  • Schüler*innen:
    • 12,4% geben an, dass Religion gar keine Relevanz besitzt.
    • 16,8% geben an, dass Religion eine sehr hohe Bedeutung hat.
    • 25,4% geben an, dass Religion eher wichtig
    • 45,3% geben an, dass Religion eher nicht wichtig
  • Lehrer*innen:
    • 86,3% stimmen der These voll/eher zu: „Viele evangelische SuS besitzen nur geringe bzw. keine Kenntnisse über ihre Konfession.“

4.) Religion scheint für die Schüler*innen in der Gestalt des „Fremden“ interessanter zu sein, als im Gewand des Vertrauten.

  • Schüler*innen:
    • 68,8% geben ein relativ hohes Interesse an anderen Religionen
    • 43,3% geben ein relativ hohes Interesse an anderen Konfessionen
    • Konfessionelle Differenzen im Christentum stehen eher nicht im Fokus der Aufmerksamkeit bzw. sind nicht „fremd“ genug.
  • Lehrer*innen:
    • 61,7% meinen, dass ihre Schüler*innen an anderen Religionen sehr/eher interessiert sind.
    • 59,3% meinen, dass ihre Schüler*innen an anderen Konfessionen sehr/eher interessiert sind.
  • Das Interesse ist nicht gespeist von einer Neugier auf ein gewisses „Exotentum“ von Minderheiten, sondern ergibt sich aus dem Zusammenleben: So geben muslimische Schüler*innen einen noch höheren Wissensdrang an den Religionen ihrer Mitschüler*innen an als die christlichen, und unter diesen äußern etwas mehr Katholik*innen als Evangelische ein solches Interesse.

5.) Eine religiöse Kenntlichkeit („Positionalität“) der Lehrkraft im Unterricht „überwältigt“ die Schüler*innen nicht.

  • Die Frage nach der Positionalität der Lehrkraft im Religionsunterricht wird sowohl von Schüler*innen als auch von Lehrer*innen äußerst heterogen beantwortet und bildet im Unterricht kein transparentes Element.
  • Schüler*innen:
    • 1/3 erlebt „oft“ oder „manchmal“, dass ihre Lehrkraft von ihrem Glauben erzählt.
    • 1/3 erlebt „selten“, dass ihre Lehrkraft von ihrem Glauben erzählt.
    • 1/3 weiß nicht, welcher Religion ihre Lehrkraft angehört.
    • 73,3% befürworten es voll oder eher, wenn die Lehrkraft von ihrem Glauben erzählt.
    • 5,1% lehnen es vollständig ab, wenn die Lehrkraft von ihrem Glauben erzählt.
    • Wenn sich die Lehrkraft im Unterricht religiös kenntlich zeigt, wird deutlich, dass Schüler*innen einer anderen Orientierung als Person und auch bezüglich der schulischen Leistung ebenso akzeptiert werden und in keinem Fall von der Positionalität der Lehrkraft „überwältigt“ werden: 99,3% bejahen, dass die Lehrkraft in dem Sinne „neutral“ ist, dass sie unterschiedliche religiöse Positionen akzeptiert.
  • Lehrer*innen:
    • 31% kommunizieren ihre formale Kirchenzugehörigkeit im Unterricht.
    • 15% kommunizieren ihre formale Kirchenzugehörigkeit im Unterricht überhaupt nicht.
    • 54% kommunizieren ihre formale Kirchenzugehörigkeit im Unterricht nur auf Nachfrage.
    • 1/3 sieht sich als „neutrale(r) Wissensvermittler/in“.
    • 1/3 sieht sich als „authentisches Beispiel für meine gelebte Religion“.
    • 58% geben an, dass die persönlichen Glaubensvorstellungen nicht bzw. eher nicht vom Religionsunterricht zu trennen sind.
    • Knapp 50% stimmen der These zu, dass „Ein religionskundlicher Unterricht, der ‚neutral‘ Informationen über Religionen vermittelt und auf religiöse Erfahrungen verzichtet, die sinnvollste Form ist, mit der wachsenden religiösen Vielfalt in der Schule umzugehen“.
    • 87% befürworten ein religiöses Erleben durch christliche Praxiselemente im Religionsunterricht.
    • Es wird deutlich: Die einzelnen Aussagen der Lehrkräfte bezüglich der Rollenfrage und Positionalität sind heterogen und nicht selten sogar widersprüchlich.

6.) Konfessionalität wird plural verstanden und erscheint zugleich reflexionsbedürftig.

  • Konfessionalität wird von allen Akteur*innen des Religionsunterrichts unterschiedlich verstanden. Es gibt kein einheitliches Konfessionalitätsverständnis. Was einen „evangelischen“ Religionsunterricht ausmacht, wird in der Sicht der Schüler*innen und Lehrer*innen mehrperspektivisch bestimmt.
  • Schüler*innen:
    • Für über die Hälfte (53,2 %) hat das Wort „evangelisch“ keine Bedeutung.
    • ¼ (26,9%) geben an, dass sie überhaupt nicht merken, dass ihr Religionsunterricht evangelisch sei.
  • Lehrer*innen:
    • 45,2% der Lehrkräfte würden ihren RU nicht als evangelisch charakterisieren.
  • Weder die Lehrer*innen noch die Schüler*innen sehen in der mehrheitlichen konfessionellen Zugehörigkeit der (Mit-)Schüler*innen ein wichtiges Konfessionalität generierendes Element.
  • Für die Schüler*innen ist die Zugehörigkeit der Lehrkraft zur Evangelischen Kirche als Konfessionalität generierender Faktor wesentlich weniger wichtig, als für die Lehrkräfte selbst (dies ist ins Verhältnis zu setzen zu der Tatsache, dass Schüler*innen häufig nicht wissen, welcher Religion/Konfession die Lehrkraft angehört).
  • Wie für die Lehrkräfte bilden auch für die Schüler*innen, bestimmte Unterrichtsthemen den wichtigsten „Konfessionalitätsmarker“.
  • Die Arbeit mit der Bibel ist für beide Gruppen ein verhältnismäßig wichtiges Element des evangelischen Charakters, allerdings liegt sie in der Perspektive der Schüler*innen weiter vorne als bei den Lehrkräften.
  • Überraschender Weise wird aus beiden Perspektiven die Förderung der Pluralitätskompetenz zum dritthäufigsten Konfessionalitätsfaktor eines evangelischen Unterrichtes gemacht.
  • Wenn Schüler*innen ihren Unterricht als explizit nicht evangelisch charakterisieren, konstruieren sie zugleich ein Bild vom evangelischen Religionsunterricht, welches sich wie folgt zusammenfassen lässt:
    • Evangelischer Religionsunterricht würde eine in erkennbarer Abgrenzung zum katholischen Unterricht vorgenommene Perspektive einnehmen, thematisch ausschließlich christlich orientiert sein und keine nicht-christlichen Religionen behandeln oder evangelische religiöse Normen fordern.
  • Das, was Schüler*innen und Lehrer*innen unter „evangelischem“ und „nicht-evangelischem“ Religionsunterricht verstehen, hat eine verhältnismäßig große gemeinsame Schnittfläche.

7.) Religiöse Vielfalt bietet mehr Chancen, als Schwierigkeiten.

  • Schüler*innen:
    • 75,5% erleben „nie“ religiös bedingte Konflikte im Religionsunterricht.
    • 15,6% erleben „selten“ religiös bedingte Konflikte im Religionsunterricht.
    • 77,9% geben an, dass unterschiedliche religiöse Meinungen von den Schüler*innen untereinander akzeptiert werden.
  • Lehrer*innen:
    • 70% erleben „nie“ religiös bedingte Konflikte im Religionsunterricht.
    • 27,9% erleben „selten“ religiös bedingte Konflikte im Religionsunterricht.
  • Schüler*innen und Lehrer*innen im Durchschnitt:
    • 94,3% befürworten voll oder eher, dass Mitschüler*innen im Unterricht von ihren Religionen erzählen.
    • 88,9% sehen das Lernen von Toleranz und Respekt gegenüber „Anderen“ als Lernen für das Leben in religiöser Pluralität.
    • 87,8% sind der Ansicht, dass durch religiöse Pluralität das Fach lebendiger, interessanter und attraktiver wird.
  • Zu den fiktiven (!) Schwierigkeiten zählen:
    • die Entstehung von Konflikten, wenn die sonst im Hintergrund bleibenden Differenzen zum Thema werden.
    • die Gefahr, dass intolerante Positionen zur Geltung kommen und dem Klima des Unterrichts schaden.
    • die Sorge, dass es in der Präsenz von anderen religiösen Orientierungen unangenehm werden könnte, die eigenen Überzeugungen zu äußern, weil diese möglicherweise damit nicht sensibel umgehen würden.

 

8.) Die große Mehrheit der Lehrer*innen und Schüler*innen wünscht sich einen Unterricht im Klassenverband mit größtmöglicher Heterogenität.

  • Lehrer*innen:
    • 87,1% votieren für einen Religionsunterricht im Klassenverband.
    • 30% würden einen separierten muslimischen Religionsunterricht begrüßen.
  • Schüler*innen:
    • 89,5% votieren für einen Religionsunterricht im Klassenverband.
    • 31% würden einen separierten muslimischen Religionsunterricht begrüßen.
    • Von den muslimischen Schüler*innen im ev. RU fänden es 68,4% schlecht bzw. eher schlecht, wenn sie ihren eigenen Religionsunterricht bekämen.
  • Zugunsten einer Trennung des Faches nach Religionsgemeinschaften wird in den Schüler*inneninterviews mit den großen Unterschieden zwischen den Religionen argumentiert, denen der gemeinsame Unterricht nicht gerecht werden könne. Wenn der Preis der Trennung den Schüler*innen hoch erscheint, werden Alternativen erwogen, wie man eine strikte Separierung nach Religionsgemeinschaften vermeiden könnte.
  • Die große Mehrheit, die sich einen Unterricht in der Klasse mit größtmöglicher Heterogenität wünscht, wird durch sehr unterschiedliche Argumentationen repräsentiert, wobei sowohl aus der Erfahrung gemeinsamen Lernens heraus als auch aus der Situation bisheriger Trennung gesprochen wird. Dabei zielen manche Begründungen stärker auf den Klassenzusammenhalt, der durch eine Trennung Schaden erleiden oder zu Ausgrenzungstendenzen führen könnte. Andere berücksichtigen stärker die religiös heterogene Zusammensetzung, wenn sie mit einem erwarteten größeren Wissenszuwachs durch authentische Stimmen aus anderen Religionsgemeinschaften, dem Lerneffekt für ein konstruktives Zusammenleben unterschiedlicher Religionen oder einer erhöhten Attraktivität des Faches argumentieren.
  • Es wird auch bemerkt, dass eine stärkere konfessionelle Trennung als bisher den bi-religiös und nicht-religiös aufwachsenden Schüler*innen die Teilnahme am Fach erschweren würde. Mit diesen Überlegungen votieren die Schüler*innen überwiegend auch gegen einen islamischen Religionsunterricht für islamische Schüler*innen, weil mit diesem der Klassenverband in einem höheren Maße als bisher für dieses Fach aufgelöst würde. Sie nehmen aufmerksam wahr, dass dieser eine stärkere „Konfessionalisierung“ des Religionsunterrichts (in traditionellem Sinne der Trennung nach Religionsgemeinschaften) im Vergleich zur gegenwärtigen Praxis bedeuten würde, in der nur sehr begrenzt nach Religionsgemeinschaften getrennt wird, und sehen dies überwiegend problematisch.

„Anforderungsprofil“ für einen Religionsunterricht der Zukunft in Schleswig-Holstein:

  • Die dargestellten Ergebnisse lassen gewisse Tendenzen erkennen, wie ein Religionsunterricht der Zukunft in Schleswig-Holstein sinnvoll gestaltet werden könnte, wenn den „empirischen Stimmen“ Gehör geschenkt werden soll. Diese lassen sich im folgenden „Anforderungsprofil“ bündeln.
    • Regionale Flexibilität
    • Erhalt der Klassengemeinschaft mit größtmöglicher Heterogenität
    • „Klärung“ der Konfessionalitätsfrage bzw. des Konfessionalitätsbegriffs
    • Transparente Positionalität der Lehrkraft
    • Dialogisches Lernen, welches authentische Erfahrungsräume für „Eigenes“ und „Fremdes“ bietet